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Vollkommen schamlos

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sufi

Achtung, dieser Blogpost enthält Spuren von Frömmigkeit.

Nachdem mir ja das Kirchentagsprogramm keine große Hilfe im Auffinden interessanter Veranstaltungen war, benutzte ich gestern Abend einfach die Funktion „In der Nähe“ der Kirchentags-App und besuchte die einzige Veranstaltung in der Gegend meines Hotels: „Drehtanz aus der Sufi-Tradition zum Mitmachen“ in der Apostelkirche in Eimsbüttel.

Und was soll ich sagen? Es war eine gute Wahl (bzw. eben keine Wahl meinerseits, sondern göttliche Fügung, haha. Kein Scherz).

Sufi ist ja eine muslimische Variante der Mystik, also eine Praxis, wie man unmittelbare Verbindung zu Gott bekommen kann („unmittelbar“ heißt, ohne Vermittlung etwa über eine Heilige Schrift oder einen Priester etc.). In diesem Fall besteht diese Praxis darin, sich dauernd im Kreis zu drehen, und zwar immer in dieselbe Richtung, zu einer meditativen Musik.

In der Apostelkirche waren eine Art „Sufi-Band“ und einige professionelle Sufi-Tänzerinnen und Tänzer, die genaue Einführung habe ich nicht mitbekommen, weil ich zu spät kam, aber sie hat auch nicht lange gedauert, das meiste war tatsächlich das Tanzen. Oder sich im Kreis drehen. Dazu gab es keine Anleitung oder so, es ging einfach die Musik los und dann haben die Leute aus dem Publikum angefangen zu tanzen, je nachdem wie sie Lust hatten. Natürlich nicht alle, aber doch viele, im Übrigen auch viele Männer. Einige schienen auch schon Erfahrung darin zu haben, anscheinend gibt es in Deutschland Kurse für Sufitanz. Erkennbar waren die „Profis“ daran, dass sie Spezialschuhe trugen, Spezial-Sufi-Schuhe, eine Art Mischung aus Ballerinas und Stiefeletten.

Wie auch immer, ich selbst tanzte nicht mit, sondern saß nur da und schaute mir das an, allerdings zweieinhalb Stunden lang praktisch bewegungslos, wodurch ich auch ein bisschen in Trance geriet. Ein paar der Mantras habe ich mitgesungen. Allah u Allah.

Und irgendwann merkte ich, dass ich richtiggehend glücklich war, genau an diesem Ort zu sein. Vor meinen Augen hatte ich all die Klischees, die über die evangelische Kirche so kursieren, die Männer-Softies in unmodischen Cordhosen und Blazern über Rollkragenpullis, die dicken Frauen in den wallenden Leinenkleidern, die hageren Betschwestern und so weiter, ja, sie alle waren da, und nicht nur das, sie tanzten da auch noch nach irgendwelchen orientalischen Klängen albern im Kreis herum. Sie wären ein gefundenes Fressen gewesen für jeden taz- oder Titanicreporter.

Aber diesen Menschen war das völlig egal. Sie kannten keine Scham. Sie bewegten ihre alten und jungen, weiblichen und männlichen, sehr sehr dicken und sehr sehr dünnen, eleganten und plumpen, beweglichen und steifen Körper durch diese Kirche, mit albernen Gesichtern und komischen Verrenkungen, manche schnell und souverän, andere im Schneckentempo, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, darüber zu lachen. Es war einfach keinerlei Coolness im Raum. Und selbst die wenigen, die sich möglicherweise ein wenig eitel darin gefielen, das Sufitanzen schon besonders gut zu beherrschen, störten das Gesamtgeschehen nicht. Wenn überhaupt, dann waren eher sie es, die ein bisschen lächerlich wirkten, aber nicht mal das. Gestern Abend, an diesem Ort, brauchte sich niemand wegen irgendetwas zu schämen, nichtmal wegen eventueller Eitelkeit. Ich saß zweieinhalb Stunden auf meinem Hintern, hörte die Musik, sah den Menschen zu, und war glücklich.

„Und sie kannten keine Scham“ wird über Eva und Adam im Paradies gesagt. Und ich glaube, das ist wirklich etwas, das paradiesische Zustände beschreibt: ein Ort, wo niemand sich schämt, wo alle so sind, wie sie sind, ohne beurteilt zu werden. Ein Ort, wo man sicher sein kann, dass jemand zu Hilfe kommt, wenn man hinfällt (und es sind gestern Abend einige hingeknallt, die vermutlich ihre Fähigkeit überschätzt hatten, sich ohne schwindlig zu werden dauernd in dieselbe Richtung zu drehen), und zwar ohne dass die Frage der Schuld überhaupt nur von Ferne im Raum steht. Ein Ort, wo die Körperlichkeit des Menschen zentral wichtig ist und geschützt wird, ohne dass damit irgendwelche Normierungen und Erwartungen und Ideale in irgendeiner Weise verbunden sind.

Einen Ort, an dem wir wirklich „nackt“ sein können, so nackt, wie sich die Menschen bei diesem Sufitanzen gemacht haben, obwohl sie natürlich Kleider am Leib hatten. Also ehrlich, ich glaube, ich war gestern Abend kurz im Paradies.



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